„Wir müssen mit Dänemark zusammenarbeiten, aber gleichberechtigter“

Duroyan Fertl interviewt Aaja Chemnitz Larsen, Mitglied des dänischen Parlaments für Inuit Ataqatigiit

02.08.2022

In Kalaallit Nunaat (Grönland) errang die linke Partei Inuit Ataqatigiit („Volksgemeinschaft“) bei den Wahlen im vergangenen Jahr einen Erdrutschsieg und gewann 37 Prozent der Stimmen und 12 der 31 Sitze im Inatsisartut (Parlament Grönlands). Das vergangene Jahr erwies sich jedoch als schwierig und führte zu einem Wechsel der Koalitionspartner. Unterdessen steht das Land vor zahlreichen Herausforderungen, da es einen Ausgleich zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit und Maßnahmen in den Bereichen Klimawandel und Umweltschutz herstellen muss und mit einer sich verändernden globalen Sicherheitslage konfrontiert ist, wobei Dänemark noch immer die Kontrolle über die auswärtigen Beziehungen und die Verteidigung hat. Duroyan Fertl interviewt Aaja Chemnitz Larsen, Abgeordnete des dänischen Parlaments für Inuit Ataqatigiit.

Ihre Partei, die Inuit Ataqatigiit (IA), gewann im April letzten Jahres die vorgezogenen Wahlen in Grönland. Welche Erfahrungen hat die IA als linke Regierungspartei seither gemacht?

Der Schwerpunkt unserer nun bereits beinahe einjährigen Tätigkeit lag auf der Zusammenarbeit mit unseren Koalitionspartnern der Partei Naleraq, einer noch weiter links angesiedelten Partei als wir, die sich aber auch sehr stark auf die Unabhängigkeit Grönlands konzentrierte und dies viel früher tat als wir bei der IA.

Es ist normal, dass sich die grönländische Bevölkerung über die Unabhängigkeit Gedanken macht – wenn man sich die Geschichte anschaut, sieht man, dass wir schon 1953 unabhängig werden hätten können, als wir (zumindest auf dem Papier) mit Dänemark gleichberechtigt wurden.

Der Schwerpunkt lag sehr auf der Unabhängigkeit und darauf, wie wir in der Außenpolitik eine andere Rolle spielen können. Wir haben eine Redewendung: „Nichts über uns ohne uns“, was bedeutet, dass jede Diskussion über Grönland oder die Arktis im dänischen Parlament (das über unsere Außenpolitik verfügt) mit grönländischer Beteiligung geschehen sollte.

Wir haben uns also sehr auf diese Themen konzentriert. Die Zusammenarbeit mit der Naleraq verlief nicht immer reibungslos. Es war irgendwie chaotisch und es gab einen ziemlich großen internen Fokus auf diese Zusammenarbeit.

Sie haben kürzlich die Koalitionspartner gewechselt, von der Naleraq zur sozialdemokratischen Partei Siumut. Gab es andere politische Gründe für einen Wechsel der Koalitionspartner oder war es vor allem die Frage der Unabhängigkeit?

Ich denke, es ging vor allem um die Haltung gegenüber Dänemark. Ich denke, dass sowohl die Siumut als auch die IA verstehen, dass wir mit Dänemark zusammenarbeiten müssen, aber wir müssen dies auf viel gleichberechtigtere Weise tun.

Wir müssen eine gute Zusammenarbeit sicherstellen und respektvoll miteinander sprechen. Dies ist für uns bei der Inuit Ataqatigiit sehr natürlich, aber nicht unbedingt für die Naleraq.

Aus diesem Grund sind die auswärtigen Angelegenheiten – insbesondere die Beziehungen zu Dänemark, aber auch zu den USA – etwas, das in den grönländischen Zeitungen viele Schlagzeilen gemacht hat.

Jetzt sind wir also zur Siumut als Koalitionspartner gewechselt. Hoffentlich können wir uns jetzt viel mehr auf die außenpolitischen Fragen konzentrieren, mit denen wir uns befassen müssen.

Grönland ist bereits vom Klimawandel betroffen und ein Versprechen der neuen IA-Regierung im vergangenen Jahr war die Unterzeichnung des Pariser Klimaschutzabkommens. Mit der neuen Koalition wurde diese Entscheidung jedoch vertagt. Warum dieser Wechsel?

Die Partei Siumut ist viel weniger geneigt, das Pariser Abkommen zu unterzeichnen, und hätte gerne noch mehr Informationen darüber, wie sich dies auf die grönländische Wirtschaft auswirken wird und welche Verpflichtungen Grönland haben wird. Deshalb müssen wir uns natürlich Zeit für diesen Prozess nehmen.

Viele von uns bei der Inuit Ataqatigiit werden sich weiterhin dafür einsetzen, dass Grönland das Abkommen unterzeichnet, denn die Temperatur in der Arktis steigt viermal so schnell wie im Rest der Welt, und das wirkt sich wirklich auf das tägliche Leben in Grönland aus.

Wir sehen das nicht nur als Bedrohung, sondern auch als etwas, an das wir uns anpassen müssen und für das wir gemeinsam mit allen anderen Ländern, die das Pariser Abkommen unterzeichnet haben, globale Verantwortung übernehmen möchten.

Grönlands Wirtschaft basiert weitgehend auf der Fischerei, aber viele sehen zum Beispiel den Bergbau als Weg zu größerer wirtschaftlicher und politischer Unabhängigkeit. Wie bringen Sie die Notwendigkeit von Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit mit dem Streben nach Wirtschaftswachstum und größerer Autonomie in Einklang?

Ich würde sagen, dass gerade die wirtschaftliche Entwicklung etwas ist, was wir in Grönland besser machen müssen. Die Menschen fragen uns immer nach der Unabhängigkeit – ob wir sie morgen, in fünf oder zehn Jahren erreichen –, aber es gibt so viele Bereiche, mit deren Führung wir noch Schwierigkeiten haben.

Zum Beispiel das Gesundheitswesen, den sozialen Sektor und die Bildung, die den Kern einer Wohlfahrtsgesellschaft bilden. Wir müssen uns auf diese Themen konzentrieren, vor allem wenn wir die Ungleichheit bekämpfen wollen, die derzeit in Grönland herrscht.

Wir haben die gleiche Ungleichheit wie in den USA. Als Linkspartei ist es sehr wichtig, dass wir uns nicht nur auf die Stärkung der Wirtschaft konzentrieren, sondern zum Beispiel auch auf das Bildungsniveau der Menschen Grönlands, damit diese Gesellschaft auch in Zukunft floriert.

Ich denke, das ist noch wichtiger, als sich auf das Endziel zu konzentrieren, nämlich die Unabhängigkeit. Wir müssen uns sehr darauf konzentrieren, in erster Linie die Menschen in Grönland zu stärken, und die Wirtschaft zu stärken, damit wir genug Geld haben, um das Wohlfahrtssystem in Grönland zu finanzieren – einen sozialen Sektor, Gesundheit und Bildung.

Trotz Grönlands Autonomie behält Dänemark die Kontrolle über auswärtige Beziehungen und die Verteidigung. Seit den 1940er Jahren gibt es auch einen US-Militärstützpunkt in Thule. Grönland und die Arktis rücken aufgrund der globalen Erwärmung zunehmend in den Mittelpunkt der globalen Politik. Wie steht die IA zur Präsenz ausländischer Truppen und zu Themen wie dem NATO-Bündnis?

Ich würde sagen, Inuit Ataqatigiit und die meisten anderen Parteien in Grönland unterstützen die NATO-Mitgliedschaft – etwas, was wir als Teil des Königreichs Dänemark erleben. Ich denke, das ist relativ neu, und ich denke, der Krieg in der Ukraine hat die Meinung in diese Richtung gelenkt.

Das ist eine Veränderung, die ich seit ein paar Jahren erlebt habe, und ich denke, wenn man einen durchschnittlichen Menschen auf der Straße in Grönland fragt, würde er sagen, dass wir keine ausländischen Truppen wollen, aber denken, dass es gut ist, NATO-Mitglied zu sein.

Es liegt an den NATO-Mitgliedern, dafür zu sorgen, dass der Fokus auf der Verteidigung aller an der NATO teilnehmenden Mitglieder liegt. Die NATO sollte jedoch ein Verteidigungsbündnis und kein Offensivbündnis sein.

Einige von uns haben ziemlich Angst vor den aktuellen Geschehnissen, aber ich denke, wenn man Menschen in der Straße anspräche, würden sie nicht angeben, Angst zu haben. Kürzlich wurde von der Universität von Grönland eine Umfrage durchgeführt, aus der hervorgeht, dass die Menschen mehr über die Ungleichheit in der grönländischen Gesellschaft und die wirtschaftliche Lage besorgt sind als über die Großmächte – China, Russland und die USA –, die ein Interesse an Grönland zeigen.

Die Umfrage wurde vor dem Krieg in der Ukraine durchgeführt, daher wäre es interessant zu sehen, ob sich etwas verändert hat, wovon ich überzeugt bin. Ich denke aber, dass sich die Menschen eher auf alltägliche Dinge konzentrieren als auf auswärtige Angelegenheiten.

Natürlich liegt es an uns als Politiker, sich Sorgen zu machen und vorbereitet zu sein, auch in einer viel unsichereren globalen Sicherheitslage. Ich denke, dass die NATO-Mitgliedschaft für uns wichtig ist, wenn in der Arktis etwas passieren würde.

Ich war kürzlich mit meinen Kollegen aus Grönland und den Färöern im NATO-Hauptquartier und wir sind der Meinung, dass der Fokus auf dem „hohen Norden“ – wie sie die Arktis nennen – vor dem Krieg in der Ukraine höher war, und sich die Aufmerksamkeit auf die Ukraine, Russland und diese Region verlagert hat.

Für uns ist das eigentlich eine gute Sache, denn der Fokus sollte auf der Verteidigung liegen. Selbst die Präsenz von NATO-Truppen in Grönland könnte man in Russland anders sehen und ich hätte zu Verteidigungszwecken lieber dänische Behörden in Grönland als die NATO.

So weit ist es aber noch nicht, und wir beobachten, was Finnland und Schweden tun und wie sich dies auf die Arktis auswirken wird, denn es gibt keinen Zweifel, dass der Krieg in der Ukraine die Arktis betrifft.

Dies merkt man im Arktischen Rat, wo ich Vorsitzende des Arktischen Parlamentsausschusses bin. Ich spreche immer mit meinen Kollegen und wir müssen in diesen sehr schwierigen diplomatischen Gewässern navigieren, um sicherzustellen, dass die Menschen in Dänemark auch verstehen, dass wir in Grönland Russland vielleicht anders sehen als Dänemark.

Es könnte also drei verschiedene Interessen innerhalb des Königreiches geben, auf die wir uns konzentrieren müssen. Dazu ist es wichtig, nicht nur den Krieg zum jetzigen Zeitpunkt zu betrachten, sondern auch an das Danach zu denken. Russland ist ein wichtiger Akteur, wenn es um die Arktis geht, und wir sollten nach dem Krieg mit Russland zusammenarbeiten – auch wenn dies im Moment inakzeptabel ist.

Ich denke, dass es wichtig ist, dass Dänemark diese Nuancen versteht, weil sie die endgültigen Entscheidungen in unserem Namen im Bereich auswärtige Angelegenheiten treffen und auch unseren Standpunkt verstehen müssen.

Könnten Sie abschließend kurz beschreiben, was Ihrer Meinung nach die wichtigsten Herausforderungen und Ziele der IA-Regierung in der kommenden Periode sind und wie sie diese angehen will?

Wir haben vor den Wahlen im vergangenen Jahr eine Strategie verabschiedet. Ich habe zur Formulierung dieser Strategie im Namen der Partei beigetragen und mit vielen Leuten in der Partei in verschiedenen Positionen gesprochen.

Für uns ist es wichtig, dass wir eine „rote“, eine „grüne“ und eine „blaue“ Agenda haben.

Auf der roten Agenda geht es um Gesundheit, Soziales und Bildung; auf der grünen geht es um Klima und Natur, was für uns sehr wichtig ist; und auf der blauen geht es um die Stärkung der Wirtschaft.

Ich denke, wir haben das meiste davon bereits diskutiert, aber wenn wir uns die blaue Agenda ansehen, müssen wir die Wirtschaft in Grönland diversifizieren. Wie Sie wissen, macht der Export unseres Fischereisektors nach Russland etwa 15 % der gesamten grönländischen Exporte aus, daher ist es wichtig, dass wir neue Märkte finden.

Wir konzentrieren uns auf den Aufbau eines Marktes in Europa, aber auch in den Vereinigten Staaten, und prüfen, wie wir sowohl die Fischereiindustrie in Grönland, die 95 % der Exporte ausmacht, stärken können, als auch den Mineralsektor, die mineralgewinnende Industrie und den Tourismus. Wir legen nicht alle Eier in denselben Korb und setzen nicht alles auf den Fischfang.

Das ist für uns momentan eine wichtige Priorität.
 

Aaja Chemnitz Larsen ist Mitglied des dänischen Parlaments für die Partei Kalaallit Nunaat und hat einen der beiden Sitze, die Kalaallit Nunaat (Grönland) vertreten. Sie ist außerdem Vorsitzende des Ständigen Ausschusses der Parlamentarier der Arktischen Region (Standing Committee of Parliamentarians of the Arctic Region, SCPAR).