#EineVonUns – MeToo und das Märchen der Gleichstellung in Dänemark

07.03.2024
Henriette Laursen
Mehrere Organisationen demonstrieren am Freitag, den 8. März 2019 in Kopenhagen

Die MeToo-Bewegung kam in Dänemark nur langsam in Schwung. Anfangs drehte sich die Debatte um die Legitimität der Bewegung und darum, das Problem zu verstehen und zu lösen. Erst als Fernsehstar und Publikumsliebling Sofie Linde 2020 ihre eigenen Erfahrungen öffentlich machte und sich eine beträchtliche Anzahl von Medienschaffenden und jungen Politiker:innen zusammenschloss, gewann die Bewegung an Stärke.

Eine Handvoll prominenter Fälle führte seitdem zu Kündigungen einiger Männer und zu genauerem Hinsehen in zahlreichen Unternehmen und Branchen, zu Änderungen der Arbeitsmarktvorschriften und zu einer tiefgreifenden, fortlaufenden Neubewertung des Sozialvertrags am Arbeitsplatz. Doch der allgemeine Eindruck, dass Dänemark bereits die Geschlechtergleichstellung erreicht hat, dürfte die Akzeptanz und die Erfüllung der Forderungen der MeToo-Bewegung gebremst haben.

 

"Aufmerksamkeitssüchtige Frauen"

Hätte man gewusst, was später noch geschehen sollte, wäre die öffentliche Einschätzung zweier Ereignisse Anfang 2017 – sechs Monate bevor MeToo als Hashtag und bedeutende supranationale Bewegung auftauchte – möglicherweise anders ausgefallen.

Zu Beginn von 2017 veröffentlichte Susan Simonsen das Buch Det underdanige og det magtrulde (Die Unterwürfigen und die Mächtigen), in dem sie über ihre Erfahrungen im dänischen Parlamentsgebäude Christiansborg berichtet, wo sie bei der Mitte-Rechts-Partei Venstre ein Praktikum absolvierte. Simonsen schreibt von übergriffiger Sprache und Berührungen während ihrer Arbeit im Parlament.

Einige Monate später machte Sonja Maria Jensen ihre Erfahrungen im Stadtrat von Nyborg öffentlich. Die Abgeordnete der Sozialdemokraten enthüllte, dass sie dort sexuellen Annäherungsversuchen und abfälligen Kommentaren in Bezug auf ihr Geschlecht und ihr Alter ausgesetzt war. Politik und Medien reagierten größtenteils mit Ablehnung, es hieß, die jungen Frauen suchten nach Aufmerksamkeit und sollten nicht so zimperlich sein. Man legte ihnen nahe, der Politik den Rücken kehren, falls sie damit nicht umgehen könnten.

Dann kam der 15. Oktober 2017, als US-Schauspielerin Alyssa Milano den Hashtag MeToo, den ursprünglich 2006 Aktivistin Tarana Burke erdacht hatte, wieder zum Leben erweckte. Milanos #MeToo öffnete auf der ganzen Welt die Schleusen für eine Welle an Berichten über Sexismus, sexuelle Belästigung und Missbrauch in der Unterhaltungsindustrie und anderen Sektoren und war der Beginn einer weltweiten, medialen Kampagne.

Nur hatte diese in Dänemark nicht wirklich Erfolg.

 

Boulevardklatsch und Promi-Skandale

Während MeToo in großen Teilen der westlichen Welt die Wirkung eines Tsunamis hatte, kam es in Dänemark einer mickrigen Welle gleich. Studien zeigten auf, dass das Thema nur teilweise ernstgenommen wurde und stattdessen in die Kategorie Boulevardklatsch und Promi-Skandale eingeordnet wurde. Eine vergleichende Analyse der Berichterstattung über MeToo in Dänemark und im benachbarten Schweden ergab signifikante Unterschiede: Die schwedische Presse beleuchtete das Thema vorwiegend aus einer breiteren politischen und gesellschaftlichen Perspektive und räumte ihm Platz im Hauptteil der Zeitungen bzw. Websites ein.

Die dänischen Medien hingegen verfuhren wie Anfang 2017: Sie stellten den Wahrheitsgehalt und die Schwere der Berichte über die Vorfälle infrage. In sieben der neun untersuchten Medien war die Anzahl der kritischen Artikel über MeToo doppelt so hoch wie die der unterstützenden. Zudem fanden sich die Artikel meist im Kulturteil oder im Feuilleton.

Dabei ließen sich drei wiederkehrende Narrative erkennen: MeToo wurde als Hexenjagd auf wehrlose Männer dargestellt, denen gegenüber Mitgefühl geäußert wurde; Frauen wurde geraten, sie sollten nicht so zimperlich sein; und Frauen wurde die Schuld für die Vorfälle zugeschoben.

Ein konkreter Fall machte jedoch Schlagzeilen: der des Filmproduzenten Peter Aalbæk Jensen, einer der prominentesten Persönlichkeit des dänischen Kinos. Es tauchten Vorwürfe über seine "Vorliebe" des Nacktbadens mit Mitarbeitenden und Praktikant:innen der Filmfirma Zentropa auf. Berichtet wurde unter anderem über einen Vorfall, bei dem Jensen ein Mikrofon unter den Rock einer Mitarbeiterin gehalten und gewitzelt habe: „Hört, die Muschi kann reden“. Die schwedische Filmgesellschaft Film i Väst forderte daraufhin, Jensens Name aus den gemeinsamen Projekten zu streichen, und Jensen wurde für zwei Wochen suspendiert.

 

Auf die Fragestellung kommt es an

Im Laufe der Zeit verwies das Arbeitsministerium wiederholt auf Studien des National Research Centre for the Working Environment, denen zufolge die dänische Arbeitswelt kaum geprägt sei von Sexismus oder sexueller Belästigung. Grund für diese Annahme war, dass nur 3,6 % der Befragten angaben, jemals am Arbeitsplatz belästigt worden zu sein. Spätere Untersuchungen ergaben jedoch, dass dieser Prozentsatz wesentlich mit der Formulierung der Fragen zusammenhing.

Auf die Frage: „Wurden Sie in den letzten 12 Monaten sexuell belästigt?“ antworteten nur 3,6 % mit Ja. Dieser Prozentsatz stieg jedoch auf ganze 20%, sobald die Fragen umfassender und konkreter formuliert wurden.

Beispiele für umfassendere Fragen sind: „Haben Sie unerwünschte sexuelle Annäherungen in Form von Berührungen, z. B. Umarmungen oder Küssen, erlebt?"; „Haben Sie erlebt, dass Ihr Körper, Ihre Sexualität oder Ihr Aussehen auf eine Weise kommentiert wurden, die Sie als beleidigend oder unangenehm empfanden?"; oder „Hat Ihnen jemand Bilder oder Videos mit sexuellen Inhalten geschickt oder gezeigt, die Sie als beleidigend oder unangenehm empfunden haben, z. B. pornografisches oder sexistisches Material?"

Kurz gesagt: Wir haben bloß nicht genau genug hingesehen.

 

„Ich mach‘ dich fertig“

An einem Abend im Spätsommer 2020 betrat Fernsehmoderatorin und Medienliebling Sofie Linde bei einer Preisverleihung die Bühne und sagte in ihrer Rede zwei Dinge: Erstens, dass ihr Gehalt niedriger sei als das ihrer männlichen Kollegen, und zweitens, dass zu Beginn ihrer TV-Karriere eine bekannte Persönlichkeit bei einer Party zu ihr sagte: „Wenn du nicht mitkommst und mir einen bläst, ruiniere ich deine Karriere. Ich mach‘ dich fertig“.

Lindes Enthüllung sorgte in den zwei darauffolgenden Wochen für großen Wirbel, wobei die Reaktionen jedoch größtenteils negativ ausfielen. War eine Preisverleihung der richtige Moment, um über Sexismus zu sprechen? Beschuldigte sie alle Männer, da sie ja keine Namen nannte? Warum hatte sie sich nicht früher geäußert? In einer Ausstrahlung der wöchentlichen Nachrichtensendung Presselogen („Die Presseloge“) auf dem nationalen Fernsehkanal TV2 stempelten vier Chefredakteure das Thema als Unsinn ab. Sie argumentierten, die Medienindustrie habe sich bereits 2017 mit dem Thema befasst und damit sei alles geklärt.

Doch dann druckte die nationale Zeitung Politiken am 10. September eine Titelseite mit den Namen von 701 Frauen aus der Medienindustrie, die Sofie Linde unterstützten. Diese Liste wuchs schnell auf 1.615 Frauen an.

 

Sexismus und Heuchelei in der Politik

Kurz darauf schlossen sich 322 Frauen aus der Politik unter dem Hashtag #EnBlandtOs (#EineVonUns) zusammen, um ihre Unterstützung zum Ausdruck zu bringen und weitere sexistische, übergriffige Vorfälle aufzudecken. Diese Frauen stammten aus dem gesamten parteipolitischem Spektrum.

Dies stellte einen Wendepunkt in Dänemark dar, ab dem Sexismus und sexuelle Belästigung tatsächlich Folgen hatten. Eine Reihe prominenter Figuren aus Politik und Medien traten zurück oder wurden entlassen, unter anderem der Bürgermeister von Kopenhagen, der Chef der sozialliberalen Partei Radikale, ein Chefredakteur und der wohl bekannteste Fernsehmoderator des Landes.

Das Vordringen von MeToo in die Politik dürfte für die Bewegung ausschlaggebend gewesen sein. Durch die Berichte unter dem Hashtag #EineVonUns verschob sich die Aufmerksamkeit von der Welt der Medien und Unterhaltung auf einen gänzlich anderen Bereich, der sich zu den höchsten  Standards der Demokratie verpflichtet: die Politik.

Auch Heuchelei dürfte MeToo weiteren Schwung verliehen haben: So stellte sich der Parteichef von Radikale klar gegen Sexismus, als Gerüchte über einen MeToo-Fall in seiner Partei aufkamen, jedoch musste er schließlich genau wegen dieses Falls sein Amt niederlegen.

Auch andere Branchen wurden von der Bewegung ergriffen: Es folgten mehrere Berichte über sexuelle Belästigung in der akademischen Welt und der Wissenschaft im allgemeinen. Im Oktober zeigte die Titelseite von Politiken elf Frauen aus verschiedenen Gewerkschaften, die Sexismus und sexuellen Missbrauch im Rahmen der Gewerkschaftsbewegung anprangerten. Es kam ans Licht, dass minderjährige Mädchen im Mädchenchor der nationalen Rundfunkanstalt DR von einem früheren Leiter sexuell belästigt worden waren. Auch in der Musikindustrie wurden Stimmen gegen Sexualisierung und Sexismus sowie ungerechte Bezahlung von Frauen und die übermäßige Repräsentation männlicher Künstler laut.

 

MeToo führte zu einem Wandel

Allmählich erkannte man, dass es sich bei dem Problem um ein bedenkliches, weitverbreitetes Phänomen handelte, sodass auch die Premierministerin sich dessen annehmen musste. Verschiedene Branchen waren gezwungen, sich aktiv mit MeToo auseinanderzusetzen und etwas gegen sexuelle Belästigung und Sexismus zu unternehmen. Es wurden Umfragen durchgeführt, Anlaufstellen zum Melden von Vorfällen geschaffen, Führungspersönlichkeiten geschult und weitere Maßnahmen ergriffen.

Zudem wurden die Beträge für Schadensersatzzahlungen aufgrund von Belästigung am Arbeitsplatz in den letzten Jahren zweimal angehoben. Die Sozialpartner, die Dänemarks wichtigste Tarifverträge aushandeln, einigten sich auf einen besseren Schutz für junge Arbeitskräfte.

Die nationale Perspektive auf MeToo wurde ausgeweitet: Statt bloß auf Einzelfälle und skandalträchtige Enthüllungen darüber, welche öffentliche Figur sich gegenüber einer anderen sexistisch verhalten habe, richtete sich der Blick nun vermehrt auf systemische Herausforderungen und die Notwendigkeit eines tiefgreifenden, kulturellen Wandels.

Eine Reihe von Projekten wurde angestoßen, um neue Denkweisen zu und ein stärkeres Bewusstsein fördern – nicht nur zu Fragen rund um MeToo, sondern auch allgemein zu geschlechtsspezifischer Diskriminierung, mit der Hoffnung, einem breiteren kulturellen Wandel den Weg zu ebnen. Dazu gehören auch Veränderungen in der Politik. Im Dezember 2022 beschloss das dänische Parlament einstimmig, die Bestimmung über Vergewaltigung im dänischen Strafgesetzbuch abzuändern, damit Geschlechtsverkehr ohne ausdrückliche Zustimmung der anderen Person nun als Vergewaltigung gilt.

 

Eine Neubewertung des Sozialvertrags am Arbeitsplatz

Diese Reaktion führt zu einer interessanten Frage: Hätte dieser Wandel auch ohne MeToo stattfinden können? MeToo trug zu einer Neubewertung des Sozialvertrags am Arbeitsplatz bei. Zuvor wurden Sexismus und sexuelle Belästigung gesondert im Einzelfall geprüft. Heute wird erwartet, dass Unternehmen aktiv und präventiv gegen Sexismus und Belästigung vorgehen.

Vor MeToo schien die allgemeine Einschätzung zu lauten: „Wenn keine Fälle bekannt sind, gibt es auch kein Problem“. Durch die Umfragen, Diskussionen, Forschungen und Berichte der letzten Jahre gelangte man zu einem neuen Verständnis: Dass keine Fälle bekannt sind, heißt nicht, dass es kein Problem gibt, sondern dass man wahrscheinlich nicht genau genug hingesehen hat.

Darüber hinaus ist mittlerweile klar, dass Unternehmen nicht untätig bleiben können, wenn ein Fall ans Licht kommt. Dies wurde beispielsweise offensichtlich, als 2021 Mitarbeitende problematische Verhaltensweisen des Geschäftsführers des Schweinezuchtbetriebs DanBred kritisierten. Anfangs stellte sich der Vorstand vor den Geschäftsführer, doch die anhaltende negative mediale Aufmerksamkeit führte letzten Endes dazu, dass nicht nur der Geschäftsführer, sondern der gesamte Vorstand den Hut nehmen musste.

 

Stärkerer Fokus auf Sexismus im Alltag

In den Anfangsjahren von MeToo ging es hauptsächlich um schwerwiegende und strafrechtlich relevante Verstöße. Dies ist nachvollziehbar, da die Bewegung mit der Beschuldigung eines US‑Filmproduzenten wegen mehrfacher Vergewaltigung begann. Inzwischen wurde das Bewusstsein auch auf problematische Verhaltensweisen im Alltag ausgeweitet. Als der Chef der Partei Radikale zurücktrat, weil herausgekommen war, dass er einer Kollegin an den Oberschenkel gefasst hatte, konzentrierte sich die Debatte vor allem darauf, ob er allein wegen einer Hand auf dem Oberschenkel aus der Politik verbannt werden sollte.

Heute liegt der Schwerpunkt mehr auf den schädlichen Folgen von Sexismus im Alltag und der schrittweise zunehmenden Wirkung. Zahlreiche kleinere, vermeintlich harmlose Vorfälle normalisieren im Lauf der Zeit inakzeptable Verhaltensweisen und richten letzten Endes bei der betroffenen Person erhebliche Schäden an. Dies wird oft als „Drip-Drip-Effekt“ (Tropf-Effekt) bezeichnet. Infolge dieser Entwicklung zweifelt heute niemand mehr an der Glaubwürdigkeit der Erfahrungen, die Pernille Skipper, ehemalige Abgeordnete der Enhedslisten, in ihrem neusten Buch Rend Mig (dt. „du kannst mich mal“) schildert, obwohl es darin eben um alltäglichen Sexismus und nicht so sehr um einen schwerwiegenden Fall von sexueller Belästigung oder Missbrauch geht.

Im Sommer 2023 erreichte MeToo eine neue Dimension, als bekannt wurde, dass mehrere junge Männer von der Chefin des Dänischen Gewerkschaftsbunds sexuell belästigt worden waren. Dies führte zu einer Debatte, ob es möglicherweise für Männer ein größeres Tabu sei, derartige Erfahrungen öffentlich zu machen. Man fragte sich, ob der Schock für Männer größer sei, da sie sich im Gegensatz zu Frauen nicht gleichermaßen bewusst seien, auch Opfer sexueller und sexualisierter Gewalt werden zu können. Andererseits kann man sich andersrum auch fragen, ob der Schaden für Männer nicht geringer ausfällt, da sie im Gegensatz zu Frauen üblicherweise nicht die Schuld zugeschoben bekommen, wenn sie den Mund aufmachen.

 

Die Tischordnung mitgestalten

Wer sich wie wir tagtäglich mit diesen Themen befasst, freut sich über die zahlreichen Veränderungen und Fortschritte – zugleich blicken wir aber mit wachsamem Auge auf Anzeichen von Rückschritten und auf Bereiche, in denen es wenig Fortschritt zu geben scheint. Sexismus am Arbeitsplatz existiert natürlich weiterhin in Dänemark und gerade Branchen, in denen ein Geschlecht dominiert, bleiben problematisch. So gibt es aktuell Bedenken hinsichtlich des Arbeitsumfeld bei den dänischen Streitkräften, nachdem Umfragen auf weitverbreitete Probleme hinwiesen. Fest steht auch, dass Industriebranchen mit gering qualifizierten Arbeitskräften nicht denselben Wandel durchlaufen haben wie angesagte Branchen mit hochqualifizierten Arbeitskräften wie die Medien- und Unterhaltungsindustrie.

Darüber hinaus gibt es Anzeichen, dass MeToo ein Generationenkonflikt ist. Die 322 Frauen aus der Politik, die mit #EineVonUns zu einem Wandel aufriefen, gehören einer deutlich jüngeren Generation an, die veraltete Normen kritisiert. Diese Frauen wurden positiv wahrgenommen, da sie verschiedene Teile des politischen Spektrums vertraten und für die Zukunft standen. Ihr Alter führte jedoch auch zu Kommentaren von älteren Frauen mit mehr politischer Erfahrung, die meinten, sie selbst hätten deutlich Schlimmeres aushalten müssen und diese jungen Frauen sollten einfach ihren Job machen.

Die kürzlich verstorbene renommierte Sozialdemokratin, ehemalige EU-Kommissarin, Ministerin und Bürgermeisterin von Kopenhagen Ritt Bjerregaard reagierte auf Fragen nach ihren Erfahrungen und dem Aufruf zum Wandel der jungen Politikerinnen mit der Aussage, dass auch sie gemischte Erfahrungen gemacht habe – was wohl als Euphemismus für unangenehme Vorfälle verstanden werden darf. Sie habe nicht den Mund aufmachen können, weil sie all ihre Kraft benötigte, um sich einen Platz am Tisch der Macht zu erkämpfen.

Bjerregaards Einschätzung lautete, die Lage sei heute eine ganz andere, es gehe für Frauen nicht mehr nur darum, dass sie sich ihren Platz am Tisch erkämpfen, sondern vielmehr darum, mitzuentscheiden, wie Frauen sich politisch einbringen wollen. Ihr zufolge sei es jetzt an der Zeit, quasi auch die Tischordnung selbst mitzugestalten, also die Umstände zu verändern, d. h. in diesem Fall Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Würde am Arbeitsplatz einzufordern.

 

Die Gleichstellungslüge

Selbstverständlich wurde viel darüber nachgedacht, warum MeToo in Dänemark nur so langsam an Boden gewinnen konnte. Eine Erklärung könnte die sogenannte „Gleichstellungslüge“ (dänisch ligestillingsløgnen) sein, d. h. der allgemeine Eindruck, dass Dänemark die Geschlechtergleichstellung bereits vor langer Zeit erreicht hat und es daher Zeitverschwendung sei, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen, obwohl weiterhin Ungerechtigkeiten bestehen. Diese Einschätzung wird auch heute noch regelmäßig von vielen bedeutenden Persönlichkeiten angeführt, um (selbst von Fakten gestützte) Bedenken in Bezug auf Sexismus und Gleichstellungsfragen auszuräumen.

Ein Beispiel ist das Thema Lohngleichheit, das 2022 auch von Medienstar Sofie Linde angesprochen wurde. Die Reaktion war grundsätzliche Ablehnung, mit dem Argument, die Lohngleichheit in Dänemark sei schon erreicht, da es das Gesetz über Lohngleichheit gebe – als ob damit alles getan sei. Statistiken aus 2021 deckten diese Lüge auf: Männer verdienen in Dänemark im Laufe ihres Lebens 12,3 % mehr als Frauen. Eine kürzliche Studie der Copenhagen Business School (CBS) ergab eine geschlechtsspezifische Lohnlücke von 7 % für Arbeit am selben Arbeitsplatz. Und laut dem Nationalen Forschungs- und Wissenszentrum für Wohlfahrt VIVE bemisst sich die sogenannte „unbegründete Differenz“ bei der Entlohnung von Männern und Frauen auf 2 %.

 

Das nordeuropäische Paradox

Als weitere Erklärung könnte das sogenannte nordeuropäische Paradox („Northern Paradox“) dienen. In den nordeuropäischen Ländern, einschließlich Dänemark, nimmt die Geschlechtergleichstellung in der Gesetzgebung eine voranginge Stellung ein und die Erwerbsbeteiligung ist hoch und nach Geschlechtern nahezu ausgewogen: 2022 bestand Dänemarks Erwerbsbevölkerung aus 1,6 Mio. Männern und 1,5 Mio. Frauen.

Wenn man jedoch genauer hinsieht, zeigt sich ein vielschichtigeres Bild: Im Privatsektor sind in Dänemark mehr Männer tätig, wohingegen Frauen im öffentlichen Sektor überwiegen, wo die Lohnlücke tendenziell geringer ist. Zudem arbeiten mehr Männer in Bauwesen, Transport und Landwirtschaft, während Frauen vorwiegend in Pflege und Bildung tätig sind – Sektoren, die von Gender-Stereotypen und niedrigen Durchschnittslöhnen geprägt sind.

 

Ein neues Verständnis von Gleichstellung

Diese Tatsachen allein mögen nicht direkt begründen, warum Sexismus und MeToo-Vorfälle in Dänemark nur widerwillig als Probleme anerkannt wurden, doch sie helfen, die weitverbreitete gesellschaftliche Reaktion zu verstehen. Mit einem Selbstbild im Sinne von „Wir stehen für Gleichstellung“ und „Wir haben die Gleichstellung vor langem erreicht“ im Kopf wurden die vehementen Forderungen nach einem tiefgreifenden Wandel von vielen als überzogen wahrgenommen.

Doch die unumstößlichen Tatsachen und die zahllosen Berichte über Vorfälle aus allen Bereichen der Gesellschaft haben ein neues Bild des dänischen Arbeitsmarktes und der Gesellschaft enthüllt. Dieses Bild mag viele unangenehm überraschen, doch es führt deutlich vor Augen, dass der Kampf für Gleichstellung und gegen sexuelle und sexualisierte Gewalt noch lange nicht an sein Ziel gelangt ist.

 

Henriette Laursen ist Geschäftsführerin von KVINFO – Dänemarks Wissenszentrum für Geschlechtergleichstellung.

Übersetzt aus dem Englishen von Guerilla Media Collective.